Wohnungsmangel in der Nachkriegszeit

1946: Nach dem zweiten Weltkrieg sind siebzig Prozent der Stadt Kassel zerstört. Im Stadtteil Rothenditmold in Kassels Nordwesten liegen sogar neunzig Prozent der Gebäude in Trümmern.

Hier liegt das Reichsbahnausbesserungswerk, dessen Dienste in dieser Zeit dringend benötigt werden. Damit ein Stück Normalität in die Stadt zurückkehren kann, muss dringend der Bahnverkehr wieder aufgenommen werden und dafür braucht es Arbeiter.

Doch diese Arbeiter finden in Kassel keinen Wohnraum. Das Werk hat eintausendsechshundert Mitarbeiter, von denen fünfhundert nicht in Kassel wohnen.

Für diejenigen, die im Umland leben, bedeutet das, dass sie teilweise mitten in der Nacht aufstehen müssen, um rechtzeitig zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen. Auch diejenigen Mitarbeiter, die in Kassel wohnen, sind mit ihren Familien in prekären Verhältnissen untergebracht.

Auf Anregung der Werksleitung entschließen sich einige Arbeiter zur Selbsthilfe. Sieben von ihnen, die von den Alliierten als unbelastet eingestuft werden, gründen am 28. November 1946 die Wohnungs- und Siedlungsbaugenossenschaft am Reichsbahn-Ausbesserungswerk Kassel eGmbH.

Wiederaufbau aus eigener Kraft

Trotz des hohen Grades der Zerstörung in Kassel befindet sich die Stadt im ersten Nachkriegsjahr bereits im Aufbau. Tatkräftig arbeiten Verwaltung und Bürger daran. Von den 225.694 Einwohnern von vor dem Krieg zählt Kassel nun nur noch 121.330.

Im Norden des neugegründeten Bundeslands Hessen gelegen befindet sich Kassel im Zonenrandgebiet. Die bis dato gepflegten Verbindungen in den Osten sind abgebrochen, gleichzeitig sieht sich die Stadt Flüchtlingsströmen ausgesetzt.

Die Arbeitskraft der Genossenschaftler ist ihr Kapital. Zudem erhalten sie Unterstützung von anderen Baugenossenschaften, der Reichsbahn und der staatlichen Wohnungsbauförderung. Um an Baumaterial zu gelangen, arbeiten die Genossenschaftler im Bausteinwerk, wo der Trümmerschutt verwertet wird.

Indem sie in ihrem Urlaub Selbsthilfestunden ableisten, erwerben sie den Anspruch auf eine Genossenschaftswohnung in der Wolfhager Straße.

Das Grundstück in der Nähe des Ausbesserungswerks stellt die Reichsbahn im Erbbaurecht für fünfundachtzig Jahre zur Verfügung, ein Darlehen von der Bau- und Bodenbank in Frankfurt ermöglicht den Bau. Später werden weitere Grundstücke in der Nähe hinzukommen.
Architekt Ernst Weimann plant die Häuser, Bauunternehmer Robert Mees macht sich an die Umsetzung. Er erhält eifrige Unterstützung der Eisenbahner, die nicht nur beim Bau mit anpacken, sondern zum Beispiel auch Probefahrten mit reparierten Loks dazu nutzen, Baumaterial zu transportieren.

Die Genossenschaft vergrößert sich

Um Anliegergebühren für Grundstücke an der Holunderstraße und der Krautäckerstraße zu sparen, erklärt sich die Genossenschaft bereit, den Straßenbau dort selbst zu übernehmen. Zwanzig Jahre später wird die Stadt die Straßen offiziell in Besitz nehmen.

1948 ist die Genossenschaft aufgrund der Währungsreform in Geldnot. Hilfe erhält sie von der Eisenbahnerversicherungskasse und der Bundesbahn.

Im Gegenzug verpflichtet sie sich, Eisenbahner bei der Vergabe der Wohnung zu bevorzugen, da immer mehr von ihnen nach Kassel versetzt werden und bezahlbaren Wohnraum benötigen.

Dann wird die Mitgliedschaft nicht mehr durch Mitarbeit, sondern durch Bargeld erworben. Damit steigt die Nachfrage.

Als im Verlauf der folgenden Jahre weitere Grundstücke hinzukommen, kann sich die Genossenschaft auf die Unterstützung der Eisenbahn und des Landes Hessen verlassen.

Jederzeit moderne Standards

Die Wohnungen in den 1950 erbauten Häusern an der Holunderstraße sind nach heutigen Maßstäben schlicht ausgestattet. Für damalige Verhältnisse sind sie jedoch komfortabel und verfügen über Kohleöfen und ein eigenes Wannenbad.

Seitdem wurden sämtliche Wohnungen modernisiert und dadurch auch die Mieten erhöht. Die Mieten sind jedoch nach wie vor vergleichsweise gering. Da die Bewohner als Genossenschaftsmitglieder keine Kündigung zu befürchten haben, investieren viele auch selbst in ihre eigenen vier Wände und bauen sie nach ihren ganz persönlichen Vorstellungen um. Durch die Zusammenarbeit mit Handwerkern ist eine schnelle Versorgung bei kleinen und großen Notfällen gesichert.

1965 werden vierundzwanzig Wohnungen in der Baderstraße in Fuldatal-Isringhausen bezugsfertig. Auch dieses Baugrundstück erhält die Genossenschaft in Erbpacht von der Bundesbahn.

Im Jahr 1994 sind diese Häuser von der Hochwasserkatastrophe betroffen. Vor allem die Erdgeschosswohnungen und die Keller werden schwer beschädigt. In die Beseitigung dieser Schäden investiert die Genossenschaft 120.000 DM.

Das heutige Leben in den Genossenschaftswohnungen erinnert nicht mehr an die Herausforderungen der mühsamen ersten Jahre. So sind die Wohnungen an der Holunderstraße beispielsweise in eine komfortable Infrastruktur eingebunden. Fußläufig sind die evangelische Paul-Gerhard-Kirche, Sporthalle und Schulen erreichbar. Zudem ist die Siedlung an den ÖPNV angebunden.